Kunstmärchen

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Kunstmärchen

Wie unterscheidet sich ein Kunstmärchen von den anderen? In diesem Kapitel findest du das heraus!

Die wilden Schwäne

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Erinnerst du dich an dieses Bild aus dem ersten Kapitel? Es spielt auf ein besonderes Märchen an, das du jetzt lesen und hören kannst.

Die wilden Schwäne

von Hans Christian Andersen

1 Weit von hier, dort wohin die Schwalben fliegen, wenn2 wir Winter haben, wohnte ein König, der elf Söhne hatte3 und eine Tochter, die Elisa hieß. 4 Die elf Prinzen gingen mit dem königlichen Wappen5 und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben6 mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lernten ebenso7 gut auswendig, wie sie lasen; man konnte gleich hören,8 dass sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf9 einem kleinen Schemel von Spiegelglas und hatte ein10 wertvolles Bilderbuch, welches für das halbe Königreich11 erkauft war.12 Oh, die Kinder hatten es außerordentlich gut; aber13 so sollte es nicht immer bleiben! 14 Ihr Vater, der König des Landes, verheiratete sich15 mit einer bösen Königin, die die armen Kinder gar nicht16 liebte. Schon am ersten Tage konnten sie es merken.17 Auf dem Schlosse gab es alles in Hülle und Fülle, und18 da spielten die Kinder: »Es kommt Besuch«; aber statt19 dass sie, wie sonst immer, Kuchen und gebratene Äpfel20 für ihr Spiel erhielten, gab die Stiefmutter ihnen bloß21 Sand und sagte, sie könnten ja so tun, als ob dies etwas22 wäre.23 Die Woche darauf gab sie die kleine Schwester Elisa24 weg aufs Land zu einem Bauernpaar, und es dauerte nicht25 lange, da erzählte sie dem König so viele Lügen über26 die armen Prinzen, dass er nichts mehr von ihnen wissen27 wollte.28 »Fliegt hinaus in die Welt und ernährt euch selbst«,29 sagte die böse Königin. »Fliegt, wie die großen Vögel30 ohne Stimme!« Aber sie konnte es doch nicht so schlimm31 machen, wie sie gern wollte; sie wurden elf herrliche32 wilde Schwäne. Mit einem sonderbaren Schrei flogen sie33 aus den Schlossfenstern, weit über den Park in den Wald34 hinein. 35 Es war noch früh am Morgen, als sie da vorbeikamen,36 wo die Schwester Elisa in der Stube der Bauern lag und37 schlief. Hier schwebten sie über dem Dache, drehten38 ihre langen Hälse und schlugen dann mit den Flügeln;39 aber niemand hörte oder sah es. Sie mussten aber wieder40 weiter, hoch gegen die Wolken empor, hinaus in die weite41 Welt.42 Die arme, kleine Elisa stand in der Stube der Bauern43 und spielte mit einem grünen Blatt; anderes Spielzeug44 hatte sie nicht. Sie stach ein Loch in das Blatt, sah45 hindurch und zur Sonne empor, da war es, als sähe sie46 die klaren Augen ihrer Brüder und jedes Mal, wenn die47 warmen Sonnenstrahlen auf ihre Wangen schienen, dachte48 sie an die Küsse, die ihr die Brüder gegeben hatten.49 Ein Tag verging ebenso wie der andere. Strich der Wind50 durch die großen Rosenhecken draußen vor dem Hause,51 so flüsterte er den Rosen zu: »Wer kann schöner sein52 als ihr?« Aber die Rosen schüttelten ihre Köpfe und53 sagten: »Elisa ist es!« Und saß die alte Frau am Sonntage54 vor der Tür und las in ihrem Gebetbuch, so wendete der55 Wind die Blätter um und sagte zu dem Buche: »Wer kann56 frömmer sein als du?« – »Elisa ist es!«, sagte das Gebetbuch.57 Und es war die reine Wahrheit, was die Rosen und das58 Gebetbuch sagten. 59 Als Elisa fünfzehn Jahre alt war, sollte sie nach60 Hause; und als die Königin sah, wie schön sie war, wurde61 sie böse. Gern hätte sie Elisa in einen wilden Schwan62 verwandelt, wie die Brüder; aber das wagte sie nicht,63 weil ja der König seine Tochter sehen wollte. 64 Früh morgens ging die Königin also in das prachtvolle65 Badezimmer, nahm drei Kröten, küsste sie und sagte zu66 der einen: »Setze Dich auf Elisas Kopf, wenn sie in67 das Bad kommt, damit sie dumm wird.« »Setze Dich auf68 ihre Stirn«, sagte sie zur andern, »damit sie hässlich69 wird, sodass ihr Vater sie nicht erkennt!« »Ruhe an70 ihrem Herzen!«, flüsterte sie der dritten zu. »Lass71 sie einen bösen Sinn erhalten, damit sie Schmerzen davon72 hat!« Dann setzte sie die Kröten in das klare Wasser,73 welches sogleich eine grüne Farbe erhielt, rief Elisa74 und ließ sie in das Wasser hinabsteigen. Als Elisa untertauchte,75 setzte die eine Kröte sich ihr in das Haar, die andere76 auf ihre Stirn und die dritte auf die Brust. Aber sie77 schien es nicht zu merken. Denn sobald sie auftauchte,78 schwammen drei rote Mohnblumen auf dem Wasser. Elisa79 war zu fromm und unschuldig, als dass die Zauberei Macht80 über sie haben konnte!81 Als die böse Königin das sah, rieb sie Elisa mit Walnusssaft82 ein, sodass sie schmutzig aussah, bestrich ihr das hübsche83 Gesicht mit einer stinkenden Salbe und ließ das herrliche84 Haar sich verwirren. Es war unmöglich, die schöne Elisa85 wiederzuerkennen. 86 Als der Vater sie sah, erschrak er sehr und sagte,87 es sei nicht seine Tochter. Niemand, außer dem Hunde88 im Schloss und den Schwalben wollte sie erkennen; aber89 das waren arme Tiere, die nichts zu sagen hatten. 90 Da weinte die arme Elisa und dachte an ihre Brüder,91 die alle fort waren. Betrübt lief sie aus dem Schlosse92 und ging den ganzen Tag über Feld und Moor bis in den93 großen Wald hinein. Sie wusste gar nicht, wohin sie94 wollte, aber sie fühlte sich unendlich traurig und sehnte95 sich nach ihren Brüdern; die waren sicher auch, gleich96 ihr, in die Welt hinausgejagt; die wollte sie suchen97 und finden.98 Nur kurze Zeit war sie im Walde gewesen, da brach die99 Nacht an; darum legte sie sich auf das weiche Moos nieder,100 betete ihr Abendgebet und lehnte ihr Haupt an einen101 Baumstumpf. Es herrschte tiefe Stille, die Luft war102 mild, und ringsumher im Grase und im Moose leuchteten,103 einem grünen Feuer gleich, Hunderte von Johanniswürmchen.104 Die ganze Nacht träumte sie von ihren Brüdern; sie105 spielten wieder als Kinder, schrieben mit den Diamantengriffeln106 auf die Goldtafeln und betrachteten das herrliche Bilderbuch,107 welches das halbe Königreich gekostet hatte. 108 Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch. Sie109 hörte Wasser von großen Quellen plätschern, die alle110 in einen See flossen, in dem der herrlichste Sandboden111 war. Elisa ging zum Wasser hin, das ganz klar war. Sobald112 Elisa ihr eigenes Gesicht erblickte, erschrak sie, so113 schmutzig und hässlich war es; doch als sie ihre kleine114 Hand benetzte und Augen und Stirne rieb, glänzte die115 schöne Haut wieder vor. Da entkleidete sie sich und116 ging in das frische Wasser hinein. Ein schöneres Königskind,117 als sie war, wurde in dieser Welt nicht gefunden! 118 Als sie sich wieder angekleidet und ihr langes Haar119 geflochten hatte, ging sie zur sprudelnden Quelle, trank120 aus der hohlen Hand und wanderte tief in den Wald hinein,121 ohne selbst zu wissen wohin. Sie dachte an ihre Brüder,122 dachte an den lieben Gott, der sie sicher nicht verlassen123 würde. Oh, hier war eine Einsamkeit, wie sie solche124 früher nie gekannt! Die Nacht wurde sehr dunkel, nicht125 ein einziger kleiner Johanniswurm leuchtete mehr im126 Moose. Betrübt legte sie sich nieder, um zu schlafen.127 Da schien es ihr, als ob die Baumzweige über ihr sich128 zur Seite bewegten und der liebe Gott mit milden Augen129 auf sie niederblickte. Als sie am Morgen erwachte, wusste130 sie nicht, ob sie es geträumt habe, oder ob es wirklich131 so gewesen. 132 Sie ging einige Schritte, da begegnete sie einer alten133 Frau mit Beeren in ihrem Korbe; die Alte gab ihr einige134 davon. Elisa fragte, ob sie nicht elf Prinzen durch135 den Wald habe reiten sehen. »Nein«, sagte die Alte,136 »aber ich sah gestern elf Schwäne mit Goldkronen auf137 den Köpfen im Fluss hier schwimmen!« Elisa sagte der138 Alten Lebewohl und ging das Flüsschen entlang, das zu139 einem großen Strand floss. 140 Das ganze herrliche Meer lag vor dem jungen Mädchen,141 aber nicht ein Segel zeigte sich darauf, nicht ein Boot142 war da zu sehen. Wie sollte sie nun dort weiter fortkommen?143 Sie betrachtete die unzähligen kleinen Steine am Ufer;144 das Wasser hatte sie alle rund geschliffen. Sie hatten145 ihre Form durch das Wasser bekommen, das doch viel weicher146 als ihre eigene Hand war. »Das rollt unermüdlich fort,147 und so ebnet sich das Harte. Ich will ebenso unermüdlich148 sein. Danke für eure Lehre, ihr klaren, rollenden Wogen!«149 Auf dem angespülten Seegras lagen elf weiße Schwanenfedern;150 sie sammelte sie in einen Strauß. Es lagen Wassertropfen151 darauf: Ob es Tautropfen oder Tränen waren, konnte niemand152 sehen. Als die Sonne untergehen wollte, sah Elisa elf153 wilde Schwäne mit Goldkronen auf den Köpfen dem Lande154 zufliegen; sie schwebten einer hinter dem andern; es155 sah aus wie ein langes weißes Band. Da stieg Elisa den156 Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busche;157 die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder und schlugen158 mit ihren großen, weißen Schwingen. 159 Sowie die Sonne untergegangen war, fielen plötzlich160 die Schwanengefieder und elf schöne Prinzen, Elisas161 Brüder, standen da. Sie sprang in ihre Arme und nannte162 sie beim Namen; und die Prinzen fühlten sich hochbeglückt,163 als sie ihre kleine Schwester erkannten. Sie lachten164 und weinten, und bald hatten sie einander erzählt, wie165 böse ihre Stiefmutter gegen sie alle gewesen war. 166 »Wir Brüder«, sagte der Älteste, »sind wilde Schwäne,167 solange die Sonne am Himmel steht. Sobald sie untergegangen168 ist, erhalten wir unsere menschliche Gestalt wieder.169 Deshalb müssen wir immer aufpassen, beim Sonnenuntergang170 an Land zu sein; denn fliegen wir um diese Zeit gegen171 die Wolken empor, so stürzen wir als Menschen in die172 Tiefe hinunter. Wir wohnen nicht hier, sondern in einem173 ebenso schönen, sicheren Land, auf der anderen Seite174 des Meeres. Aber der Weg dahin ist weit: Wir müssen175 über das große Meer, und es findet sich keine Insel176 auf unserm Wege, wo wir übernachten könnten: Nur eine177 kleine Klippe ragt in der Mitte hervor; aber sie ist178 nur so groß, dass wir, dicht an dicht, darauf ruhen179 können. Dort übernachten wir in unserer Menschengestalt.180 Ohne diese Klippe könnten wir nie unser liebes Vaterland181 besuchen, denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen182 wir zu unserm Fluge. Darum ist es uns nur einmal im183 Jahr vergönnt, unsere Heimat zu besuchen; elf Tage dürfen184 wir hier bleiben und das Schloss, in dem wir geboren185 wurden und wo unser Vater wohnt, erblicken und den hohen186 Kirchturm sehen, wo die Mutter begraben ist. Hier kommt187 es uns vor, als wären Bäume und Büsche mit uns verwandt,188 hierher fühlen wir uns gezogen, und hier haben wir dich,189 du liebe, kleine Schwester, gefunden! Zwei Tage können190 wir noch hier bleiben, dann müssen wir fort über das191 Meer! Wie bringen wir dich fort? Wir haben weder Schiff192 noch Boot!«193 »Auf welche Art kann ich Euch erlösen?«, fragte die194 Schwester. Und sie unterhielten sich fast die ganze195 Nacht, fanden es aber nicht heraus. 196 Elisa erwachte von dem Schlag der Schwanenflügel,197 welche über ihr brausten. Die Brüder waren wieder verwandelt198 und flogen in großen Kreisen weg; aber der eine von199 ihnen, der Jüngste, blieb zurück, legte den Schwanenkopf200 in ihren Schoß und sie streichelte seine Flügel; den201 ganzen Tag waren sie beisammen. Gegen Abend kamen die202 andern zurück, und als die Sonne untergegangen war,203 standen sie in natürlicher Gestalt da. »Morgen fliegen204 wir von hier weg und können vor Ablauf eines ganzen205 Jahres nicht zurückkehren. Hast Du Mut, mitzukommen?206 Wir sollten alle so starke Flügel haben, um mit dir207 über das Meer zu fliegen.« »Ja, nehmt mich mit!«, sagte208 Elisa. 209 Die ganze Nacht brachten sie damit zu, aus geschmeidiger210 Weidenrinde und zähem Schilf ein Netz zu flechten, und211 das wurde groß und fest. Auf dieses Netz legte sich212 Elisa, und als die Sonne hervortrat und die Brüder in213 wilde Schwäne verwandelt wurden, ergriffen sie das Netz214 mit ihren Schnäbeln und flogen mit ihrer lieben Schwester,215 die noch schlief, hoch gegen die Wolken empor. Die Sonnenstrahlen216 fielen ihr gerade auf das Gesicht, deshalb flog einer217 der Schwäne über ihrem Kopfe, damit seine breiten Schwingen218 sie beschatten konnten.219 Sie waren weit vom Lande entfernt, als Elisa erwachte;220 sie glaubte, noch zu träumen, so sonderbar kam es ihr221 vor, hoch durch die Luft, über das Meer getragen zu222 werden. An ihrer Seite lag ein Zweig mit herrlichen,223 reifen Beeren und ein Bündel wohlschmeckender Wurzeln;224 die hatte der jüngste der Brüder gesammelt und ihr hingelegt.225 Sie lächelte ihn dankbar an, denn sie erkannte ihn;226 er war es, der über ihr flog und sie mit seinen Schwingen227 beschattete. 228 Den ganzen Tag flogen sie fort, gleich einem sausenden229 Pfeil durch die Luft; aber es ging doch langsamer als230 sonst, denn jetzt hatten sie die Schwester zu tragen.231 Es zog ein böses Wetter auf und der Abend brach herein.232 Ängstlich sah Elisa die Sonne sinken, und noch war die233 einsame Klippe im Meere nicht zu erblicken. Es kam ihr234 vor, als machten die Schwäne stärkere Schläge mit den235 Flügeln. Ach! Sie war schuld daran, dass sie nicht rasch236 genug vorankamen. Wenn die Sonne untergegangen war,237 so mussten sie Menschen werden, in das Meer stürzen238 und alle ertrinken. Die schwarze Wolke kam näher; die239 Wolken standen in einer einzigen, großen, drohenden240 Welle da, Blitz leuchtete auf Blitz.241 Jetzt war die Sonne gerade am Rande des Meeres, Elisas242 Herz bebte; da schossen die Schwäne hinab, so schnell,243 dass sie zu fallen glaubte. Da erblickte sie erst die244 kleine Klippe unter sich. Sie sah nicht größer aus,245 als ob es ein Seehund wäre, der den Kopf aus dem Wasser246 steckte. Die Sonne sank sehr schnell, da berührte ihr247 Fuß den festen Grund. Die Sonne erlosch. Arm in Arm248 sah sie die Brüder um sich stehen; aber mehr Platz als249 gerade für diese und sie war nicht da. Die See schlug250 gegen die Klippe und ging wie Staubregen über sie hin;251 der Himmel leuchtete in einem fortwährenden Feuer, und252 Schlag auf Schlag rollte der Donner; aber Schwester253 und Brüder fassten sich an den Händen und sangen Gebete,254 aus denen sie Trost und Mut schöpften. In der Morgendämmerung255 war die Luft rein und still; sobald die Sonne emporstieg,256 flogen die Schwäne mit Elisa von der Insel fort. 257 Sie flogen lange, bis sie endlich das Land sah, nach258 dem sie hin wollten; dort erhoben sich die herrlichsten259 blauen Berge mit Zedernwäldern, Städten und Schlössern.260 Lange bevor die Sonne unterging, saß sie auf dem Felsen261 vor einer großen Höhle, die mit feinen grünen Schlingpflanzen262 bewachsen war.263 »Nun wollen wir sehen, was Du diese Nacht hier träumst«,264 sagte der jüngste Bruder und zeigte ihr ihre Schlafkammer.265 »Gebe der Himmel, dass ich träume, wie ich euch erlösen266 kann!«, sagte sie. Und dieser Gedanke beschäftigte sie267 lebhaft; sie betete inbrünstig zu Gott um seine Hilfe;268 ja, selbst im Schlafe fuhr sie fort zu beten. Da kam269 es ihr vor, als käme ihr eine Fee entgegen, schön und270 glänzend; und doch glich sie ganz der alten Frau, die271 sie im Wald getroffen hatte. 272 »Deine Brüder können erlöst werden«, sagte sie; »aber273 hast Du Mut und Ausdauer? Wohl ist das Wasser weicher274 als deine feinen Hände und doch formt es die Steine275 um; aber es fühlt nicht die Schmerzen, die deine Finger276 fühlen werden; es hat kein Herz, leidet nicht die Angst277 und Qual, die du aushalten musst. Siehst du die Brennnessel,278 die ich in meiner Hand halte? Von derselben Art wachsen279 viele rings um die Höhle, wo du schläfst; nur die dort280 und die, welche auf dem Friedhof wachsen, sind tauglich.281 Merke dir das. Die musst du pflücken, obgleich sie deine282 Hand voll Blasen brennen werden. Brich diese Nesseln283 mit deinen Füßen, so erhältst du Flachs; aus diesem284 musst du elf Hemden mit langen Ärmeln flechten. Wirf285 diese über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst.286 Aber bedenke, dass du von dem Augenblicke, wo du diese287 Arbeit beginnst, bis sie vollendet ist, nicht sprechen288 darfst, wenn auch Jahre darüber vergehen! Auch nur ein289 Wort, das du sprichst, geht als tödlicher Dolch in deiner290 Brüder Herzen! An deiner Zunge hängt ihr Leben.« 291 Und sie berührte gleichzeitig ihre Hand mit der Nessel,292 einem brennenden Feuer gleich. Elisa erwachte dadurch.293 Es war heller Tag und neben ihr lag eine Nessel. Da294 fiel sie auf ihre Knie, dankte dem lieben Gott und ging295 aus der Höhle hinaus, um ihre Arbeit zu beginnen. Mit296 den feinen Händen griff sie hinunter in die hässlichen297 Nesseln. Diese waren wie Feuer; sie brannten große Blasen298 in ihre Hände und Arme; aber gern wollte sie es ertragen,299 konnte sie nur die lieben Brüder erlösen. Sie brach300 jede Nessel mit ihren bloßen Füßen und flocht den grünen301 Flachs. 302 Als die Sonne untergegangen war, kamen die Brüder303 und erschraken, sie so stumm zu finden; sie glaubten,304 es wäre ein neuer Zauber der bösen Stiefmutter. Aber305 als sie ihre Hände erblickten, begriffen sie, dass sie306 es ihretwegen tat. Der jüngste Bruder weinte; und wohin307 seine Tränen fielen, da fühlte sie keine Schmerzen,308 da verschwanden die brennenden Blasen. Die Nacht brachte309 sie bei ihrer Arbeit zu, denn sie hatte keine Ruhe,310 bevor sie die lieben Brüder erlöst hatte. Den folgenden311 Tag, während die Schwäne fort waren, saß sie in ihrer312 Einsamkeit; aber noch nie war die Zeit so schnell vergangen313 wie jetzt. Ein Hemd war schon fertig, nun fing sie das314 zweite an. 315 Da ertönte ein Jagdhorn zwischen den Bergen. Sie wurde316 von Furcht ergriffen. Der Ton kam immer näher; sie hörte317 Hunde bellen; erschrocken floh sie in die Höhle, band318 die Nesseln, die sie gesammelt hatte, in ein Bund zusammen319 und setzte sich darauf. Sogleich kam ein großer Hund320 aus der Schlucht hervorgesprungen, bellte laut und es321 dauerte nur wenige Minuten, so standen alle Jäger vor322 der Höhle, und der schönste unter ihnen war der König323 des Landes. Er trat auf Elisa zu. Nie hatte er ein schöneres324 Mädchen gesehen. 325 »Wie bist du hierher gekommen?«, fragte er. Elisa schüttelte326 den Kopf: Sie durfte ja nicht sprechen. »Komm mit mir!«,327 sagte er. »Hier darfst du nicht bleiben. Bist du so328 gut, wie du schön bist, so will ich dich in Seide und329 Samt kleiden, die Goldkrone auf das Haupt setzen, und330 du sollst in meinem reichsten Schlosse wohnen und herrschen!«331 Dann hob er sie auf sein Pferd. Sie weinte und rang332 die Hände, aber der König sagte: »Ich will nur dein333 Glück! Einst wirst du mir dafür danken.« Mit diesen334 Worten jagte er fort durch die Berge, und setzte sie335 vor sich auf das Pferd, und die Jäger jagten hinterher. 336 Als die Sonne unterging, lag die schöne Königsstadt337 mit Kirchen und Kuppeln vor ihnen. Und der König führte338 sie in das Schloss, wo große Springbrunnen in den Marmorsälen339 plätscherten, wo Wände und Decken mit Gemälden prangten.340 Aber sie hatte keine Augen dafür, sie weinte und trauerte.341 Willig ließ sie sich von den Frauen königliche Kleider342 anlegen und feine Handschuhe über die verbrannten Finger343 ziehen. Als sie in ihrer Pracht dastand, war sie blendend344 schön, sodass der Hof sich tief verneigte. Und der König345 erkor sie zu seiner Braut, obgleich der Erzbischof den346 Kopf schüttelte und flüsterte, dass das schöne Waldmädchen347 sicher eine Hexe sei. 348 Aber der König hörte nicht darauf, ließ die Musik349 ertönen und die köstlichsten Gerichte auftragen, aber350 nicht ein Lächeln kam auf ihre Lippen: Als Bild der351 Trauer stand sie da. Dann öffnete der König eine kleine352 Kammer neben ihrer Schlafkammer; die war mit wunderbaren353 grünen Teppichen geschmückt und glich der Höhle, in354 der sie gewesen war; auf dem Fußboden lag das Bund Flachs,355 welches sie aus den Nesseln gesponnen hatte, und auch356 das Hemd, welches fertig gestrickt war.  357 »Hier kannst du dich in deine frühere Heimat zurückträumen!«,358 sagte der König. »Hier ist die Arbeit, die dich dort359 beschäftigte. Jetzt, mitten in all' deiner Pracht wird360 es dich belustigen, an jene Zeit zurückzudenken.« Als361 Elisa dies sah, was ihrem Herzen so nahe lag, spielte362 ein Lächeln um ihren Mund und das Blut kehrte in die363 Wangen zurück. Sie dachte an die Erlösung ihrer Brüder,364 küsste des Königs Hand und er drückte sie an sein Herz365 und ließ durch alle Kirchenglocken das Hochzeitsfest366 verkünden. Das schöne, stumme Mädchen aus dem Walde367 ward des Landes Königin. 368 Da flüsterte der Erzbischof böse Worte in des Königs369 Ohren, aber sie drangen nicht bis zu seinem Herzen.370 Die Hochzeit sollte stattfinden; der Erzbischof selbst371 musste ihr die Krone auf das Haupt setzen, und er drückte372 sie mit bösem Sinn so fest auf ihren Kopf, dass es schmerzte.373 Doch noch mehr schmerzte sie die Trauer um ihre Brüder.374 Ihr Mund war stumm; ein einziges Wort würde ja ihren375 Brüdern das Leben kosten; aber in ihren Augen sprach376 sich innige Liebe zu dem guten, schönen Könige aus,377 der alles tat, um sie zu erfreuen. Von ganzem Herzen378 gewann sie ihn von Tage zu Tage lieber. Oh, dass sie379 sich ihm nur anvertrauen und ihre Leiden klagen dürfte!380 Doch stumm musste sie sein, stumm musste sie ihr Werk381 vollbringen. Deshalb schlich sie sich des Nachts von382 seiner Seite, ging in die kleine Kammer und strickte383 ein Hemd nach dem andern fertig. Aber als sie das siebente384 begann, hatte sie keinen Flachs mehr. 385 Auf dem Friedhof, das wusste sie, wuchsen die Nesseln,386 die sie gebrauchen konnte. Aber die musste sie selbst387 pflücken; wie sollte sie da hinaus gelangen?388 Mit einer Angst, als sei es eine böse Tat, die sie389 vorhabe, schlich sie sich in der mondhellen Nacht in390 den Garten hinunter und ging durch die einsamen Straßen391 nach dem Friedhof hinaus. Da sah sie auf einem der breitesten392 Leichensteine einen Kreis Lamien sitzen. Diese hässlichen393 Hexen gruben gerade mit ihren langen Fingern die frischen394 Gräber auf. Elisa musste an ihnen nahe vorbei, und sie395 hefteten ihre bösen Blicke auf sie; aber sie betete396 still, sammelte die brennenden Nesseln und trug sie397 nach dem Schlosse heim. 398 Nur ein einziger Mensch hatte sie gesehen: der Erzbischof;399 er war munter, wenn die andern schliefen. Nun fühlte400 er sich im Recht mit seiner Meinung, dass die Königin401 eine Hexe sei. 402 Er erzählte dem König, was er gesehen hatte und was403 er befürchte. Da rollten zwei schwere Tränen über des404 Königs Wangen herab; er ging nach Hause mit Zweifel405 in seinem Herzen und stellte sich in der Nacht, als406 ob er schliefe. Er merkte, wie Elisa aufstand. Jede407 Nacht wiederholte sie dieses, und jedes Mal folgte er408 ihr leise nach und sah, wie sie in ihrer Kammer verschwand.409 Von Tag zu Tag wurde seine Miene finsterer; Elisa sah410 es, begriff aber nicht, weshalb; allein es ängstigte411 sie. Inzwischen war sie bald mit ihrer Arbeit fertig;412 nur ein Hemd fehlte noch; aber nicht eine einzige Nessel413 hatte sie mehr. Einmal, nur dieses letzte Mal, musste414 sie deshalb zum Friedhof, um einige Hände voll zu pflücken. Elisa415 ging; aber der König und der Erzbischof folgten ihr.416 Sie sahen sie bei der Gitterpforte zum Friedhof hinein417 verschwinden, und als sie folgten, saßen die Lamien418 auf dem Grabstein. Der König wandte sich ab. Seine Königin419 war eine von ihnen! 420 »Das Volk muss sie verurteilen!«, sagte er. Und das421 Volk verurteilte sie, als Hexe verbrannt zu werden.422 Aus den prächtigen Königssälen wurde sie in ein dunkles,423 feuchtes Loch geführt, wo der Wind durch das Gitter424 hineinpfiff; statt Kissen und Decken aus Samt und Seide425 gab man ihr das Bund Nesseln, welches sie gesammelt426 hatte, und die harten brennenden Hemden, die sie gestrickt427 hatte. Aber nichts Lieberes hätte man ihr geben können;428 sie nahm wieder ihre Arbeit auf und betete zu Gott.429 Draußen sangen die Straßenbuben Spottlieder auf sie;430 keine Seele tröstete sie mit einem freundlichen Worte. 431 Da schwirrten gegen Abend dicht am Gitter Schwanenflügel:432 Das war der jüngste der Brüder. Er hatte die Schwester433 gefunden; und sie schluchzte laut vor Freude, obgleich434 sie wusste, dass die kommende Nacht wahrscheinlich die435 letzte sein würde, die sie zu leben habe. Aber nun war436 ja auch die Arbeit fast beendigt und ihre Brüder waren437 hier. Kleine Mäuse liefen auf dem Fußboden; sie schleppten438 Nesseln zu ihr hin, um doch etwas zu helfen; und eine439 Drossel setzte sich an das Gitter des Fensters und sang440 die ganze Nacht so munter, wie sie konnte, damit Elisa441 nicht den Mut verlieren möchte. 442 Noch vor Sonnenaufgang standen die elf Brüder an der443 Pforte des Schlosses und verlangten den König zu sprechen.444 Das könne nicht geschehen, wurde geantwortet; es wäre445 ja noch Nacht: der König schlafe und dürfe nicht geweckt446 werden. Sie baten, sie drohten, bis die Wache kam, und447 am Ende der König selbst, aber da ging die Sonne auf,448 und nun waren keine Brüder zu sehen; aber über das Schloss449 flogen elf wilde Schwäne dahin. Vor der Stadt versammelte450 sich das ganze Volk. Es wollte die Hexe verbrennen sehen.451 Ein alter Gaul zog den Karren, auf dem sie saß; man452 hatte ihr einen Kittel von grobem Sackleinen angezogen;453 ihr herrliches Haar hing aufgelöst um das schöne Haupt;454 ihre Wangen waren totenbleich, ihre Lippen bewegten455 sich leise, während die Finger den grünen Flachs flochten.456 Selbst auf dem Weg zu ihrem Tode unterbrach sie die457 angefangene Arbeit nicht; die zehn Hemden lagen zu ihren458 Füßen, an dem elften arbeitete sie. Der Pöbel verhöhnte459 sie. 460 »Sieh die Hexe, wie sie murmelt! Kein Gebetbuch hat461 sie in der Hand; nein, mit ihrer hässlichen Gaukelei462 sitzt sie da. Reißt sie ihr in tausend Stücke!«463 Und sie drängten sich alle zu ihr und wollten die Hemden464 zerreißen, aber da kamen elf wilde Schwäne geflogen,465 die setzten sich rings um sie auf den Karren und schlugen466 mit ihren großen Schwingen. Nun wich die Meute erschrocken467 zur Seite.468 »Das ist ein Zeichen des Himmels! Sie ist sicher unschuldig!«,469 flüsterten viele. Aber sie wagten nicht, es laut zu470 sagen. 471 Jetzt ergriff der Henker sie bei der Hand; da warf472 sie hastig die elf Hemden über die Schwäne. Und sogleich473 standen elf schöne Prinzen da. Nur der Jüngste hatte474 einen Schwanenflügel statt des einen Armes, denn es475 fehlte ein Ärmel an seinem Hemd, den hatte sie nicht476 fertig gebracht. 477 »Nun darf ich sprechen!«, sagte sie. »Ich bin unschuldig!«478 Und das Volk, welches sah, was geschehen war, neigte479 sich vor ihr wie vor einer Heiligen; aber sie sank leblos480 in der Brüder Arme; so hatten Spannung, Angst und Schmerz481 auf sie gewirkt. 482 »Ja, unschuldig ist sie«, sagte der älteste Bruder,483 und nun erzählte er alles, was geschehen war. Und während484 er sprach, verbreitete sich ein Duft wie von Millionen485 Rosen, denn jedes Stück Brennholz im Scheiterhaufen486 hatte Wurzeln geschlagen und trieb aus. Es stand eine487 duftende Hecke da, hoch und groß, mit roten Rosen; oben488 saß eine Blume weiß und glänzend. Sie leuchtete wie489 ein Stern. Die pflückte der König und steckte sie an490 Elisas Brust. Da erwachte sie mit Frieden und Glückseligkeit491 im Herzen. Und alle Kirchenglocken läuteten von selbst,492 und die Vögel kamen in großen Zügen. Es wurde ein Hochzeitszug493 zurück zum Schlosse, wie ihn noch kein König gesehen494 hatte!

Die wilden Schwäne

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Auswertung

Was ist ein Kunstmärchen?

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Nun kennst du dich gut mit dem Märchen Die wilden Schwäne aus.
Überprüfe, warum es als Kunstmärchen bezeichnet wird.
Dafür brauchst du zunächst Informationen über Kunstmärchen im Allgemeinen, die du in dem Lexikonartikel unten findest. Diesen Artikel kannst du nach dem ersten Lesen mit den Aufgaben darunter genauer untersuchen.

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Lexikonartikel Kunstmärchen

1 Das Kunstmärchen 2 Ein Kunstmärchen ist eine Form des Märchens, das von3 Autorinnen und Autoren bewusst erschaffen wird. Im Gegensatz4 zu traditionellen Volksmärchen, die mündlich über Generationen5 weitergegeben werden und keinen bestimmten Urheber haben,6 stammen Kunstmärchen aus der Fantasie und Kreativität7 von bestimmten Menschen.  8 Zudem verfügen Kunstmärchen über einen komplexeren9 Aufbau als Volksmärchen. Die Handlung ist häufig nicht10 so vorhersehbar, auch gehen nicht alle Kunstmärchen11 gut aus.  12 Die Figuren in Kunstmärchen sind meist nicht nur den13 Gegensätzen Gut und Böse zuzuordnen. Sie können sich14 auch wandeln oder nicht nur gut oder böse sein. Oft15 wird auch ein innerer Konflikt einer Figur sehr genau16 dargestellt.  17 Beispiele für Kunstmärchen sind Hans Christian Andersens18 Die kleine Meerjungfrau, Antoine de Saint-Exupérys Der19 kleine Prinz oder E. T. A. Hoffmanns Der goldne Topf. 

Kunstmärchen (Originalsprache)

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1. Schritt
§ Cc4
2. Schritt

Lies den Absatz. Beantworte dann die Aufgabe. 

§ Cc4
3. Schritt

Lies den Absatz noch einmal. Ziehe dann die Wörter in die passenden Felder. 

§ Cc4
4. Schritt

Lies nun den zweiten Absatz. Welche Aussage ist richtig? Wähle sie aus. 

§ Cc4
5. Schritt

Lies den nächsten Absatz. Ziehe die vier Aussagen in das passende Feld. 

§ Cc4
6. Schritt

Lies die Aussage. Wähle dann, ob sie richtig oder falsch ist. 

In Kunstmärchen werden die Figuren viel genauer dargestellt als in Volksmärchen. Darum haben die Kunstmärchen-Figuren manchmal auch Namen und heißen nicht nur Schneider oder König.

§ Cc4
7. Schritt

Lies Absatz Nummer 4. Beantworte dann die Frage. 

§ Cc4
8. Schritt

Wie heißen die Sätze richtig? Vervollständige den Merksatz zu Kunstmärchen. Ziehe die Wörter in an ihre richtige Stelle. 

§ Cc4
Auswertung

Merkmale des Kunstmärchens in „Die wilden Schwäne“

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Nun kennst du die Merkmale eines Kunstmärchens. Ob sie auf das Märchen der wilden Schwäne zutreffen, kannst du jetzt überprüfen. 

1. Schritt
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2. Schritt

Was trifft auf den Beginn des Märchens Die wilden Schwäne zu? Wähle aus. 

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3. Schritt

Was trifft auf den Hauptteil zu? Wähle aus.

§ Cc4
4. Schritt

Was trifft auf den letzten Teil des Märchens zu? Wähle aus.

§ Cc4
5. Schritt

Was trifft auf die Handlung zu? Wähle aus.

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6. Schritt

Ist die Figur Elisa komplex? Je mehr Häkchen du setzen kannst, desto komplexer ist die Figur. 

§ Cc4
7. Schritt

Bei welchen Figuren erfahren wir beim Lesen etwas über ihre inneren Konflikte, also was sie traurig macht oder warum sie sich so verhalten? 

§ Cc4
8. Schritt

Klicke auf das Gesicht, um deine Antwort abzugeben. 

§ Cc4
Auswertung

Vergleiche Volksmärchen und Kunstmärchen

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Nutze dein Wissen über Volksmärchen nun, um sie mit den Volksmärchen zu vergleichen. Überlege dir, wie sie sich unterscheiden im Hinblick auf Urheberschaft, Aufbau und Figuren. 

Hier findest du das Arbeitsblatt zum Ausdrucken.

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Mehr zu den Figuren in „Die wilden Schwäne“

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Nachdem du dich nun mit Kunstmärchen und ihren Merkmalen in Die wilden Schwäne beschäftigt hast, bleiben noch ein paar Fragen zum Märchen selbst. Diese Aufgaben könnt ihr in Partnerarbeit erledigen. 

Untersucht eine Figur genauer

Wählt eine Figur aus und beschreibt sie genauer, indem ihr euch Notizen zu den Fragen macht. 

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  • Welche Eigenschaften kann man der Figur zuordnen? Findet passende Adjektive, z. B. gut, fromm, stark, schwach, hinterhältig ...
  • Wie verhält sich die Figur im Laufe der Handlung? Verändert sie durch ihr Verhalten das Geschehen?
  • Gibt es Stellen, an denen sich die Figur anders verhalten hätte können? Wie hätte sich dadurch die Handlung verändert?
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Bereitet nun ein Rollenspiel für zwei Figuren vor. Wählt dafür eine Szene aus den Bildern aus, verteilt die Rollen und überlegt euch, was ihr dem anderen sagen könnt. Dann führt das Rollenspiel durch.

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Zusatzangebot

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Möchtest du noch ein weiteres Kunstmärchen lesen? Hier findest du eines, das sehr berühmt geworden ist. 

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Das hässliche Entlein

Hans Christian Andersen

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Urheber: Hans Tegner

https://en.wikisource.org/wiki/Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner)/The_Ugly_Duckling#/media/File:Page_220_of_Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner).jpg

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Draußen auf dem Land war es herrlich. Es war Sommer; gelb stand das Korn, grün der Hafer; auf den Wiesen drunten war das Heu auf Haufen aufgesetzt; und da spazierte der Storch auf seinen langen roten Beinen und klapperte ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Mutter gelernt. Große Wälder erstreckten sich rings um den Acker und die Wiesen, und mittendrin lagen tiefe Seen. O, es war herrlich, da draußen auf dem Land!

Mitten im warmen Sonnenschein lag da ein alter Herrenhof, von tiefen Kanälen umgeben, und von dessen Mauern an bis hinab zum Wasser wuchsen grüne Klettenstauden, die so hoch waren, dass unter den größten ihrer Blätter kleine Kinder aufrecht stehen konnten. Es war so wild hier wie im tiefsten Wald.

Da saß eine Ente in ihrem Nest auf ihren Eiern; aber sie war nun schon ein wenig verdrießlich, weil es gar so lange dauerte, bis die Jungen ausschlüpften, und sie nur selten Besuch bekam. 

Endlich platzte ein Ei nach dem anderen. »Piep, piep!«, erklang es. Alle Eidotter waren lebendig geworden und streckten die Köpfchen heraus. »Rapp, rapp, eilt, eilt!«, rief die alte Ente, und da rappelten und beeilten sich die Jungen aus Leibeskräften und guckten unter den grünen Blättern nach allen Seiten umher. 

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Urheber: Hans Tegner

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9a/Page_221_of_Fairy_tales_and_stories_%28Andersen%2C_Tegner%29.jpg

PD

»Ach, wie groß ist die Welt!«, sagten alle Jungen. Jetzt hatten sie freilich ganz anders Platz, als da sie noch drinnen im Ei lagen. »Meint ihr, das sei die ganze Welt?«, sagte die Mutter. »O nein, sie erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens hin, ja bis an den Zaun; dort bin ich freilich noch nie gewesen! – Nun seid ihr wohl alle da?«, fügte sie hinzu und erhob sich. »Ach nein, es sind noch nicht alle! Das größte Ei liegt immer noch da. Wie lang soll denn das noch dauern? Nun habe ich es wirklich bald satt!« Darauf setzte sie sich wieder.

»Nun, wie geht's?«, fragte eine alte Ente, die sie besuchen kam.
»Mit dem einen dauert es gar so lange«, sagte die brütende Ente. »Es zeigt sich noch immer kein Loch darin, aber sieh dir nur die anderen an. Das sind wirklich die niedlichsten Entlein, die ich je gesehen habe.«

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Urheber: Hans Tegner

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/24/Page_225_of_Fairy_tales_and_stories_%28Andersen%2C_Tegner%29.jpg

PD

»Lass mich doch das eine sehen, das nicht platzen will«, erwiderte die Alte. »O, das ist ein Putenei; du kannst dich darauf verlassen! So bin ich auch einmal angeführt worden und hatte meine liebe Not mit den Jungen; denn sie fürchteten sich vor dem Wasser. Ich konnte sie gar nicht hineinbringen, so viel ich auch rappte und schnappte; es half alles nichts! Lass es nur liegen und lehre lieber deine anderen Kinder schwimmen.«

»Ein Weilchen will ich doch noch darauf sitzen bleiben«, entgegnete die Ente. »Habe ich nun so lange gesessen, so kommt es auf ein Weilchen auch nicht mehr an.«
»Ganz nach Belieben«, sagte die alte Ente und darauf verabschiedete sie sich.

Endlich platzte das große Ei. »Piep, piep!«, sagte das Junge und kroch heraus. Es war sehr groß und auffallend hässlich. Die alte Ente betrachtete es: »Das ist ja ein schrecklich großes Entlein«, sagte sie, »keines von den anderen sieht so aus. Sollte es wirklich eine junge Pute sein? Nun, das werden wir bald sehen. Ins Wasser muss es, und wenn ich es selbst hineinstoßen müsste.«

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Urheber: Hans Tegner

https://en.wikisource.org/wiki/Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner)/The_Ugly_Duckling#/media/File:Page_223_of_Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner).jpg

PD

Am nächsten Tag war herrliches Wetter. Die Sonne strahlte hell auf all die grünen Kletten. Die Entleinmutter erschien mit ihrer ganzen Familie am Kanal. Platsch! sprang sie ins Wasser. »Rapp, rapp!«, rief sie, und ein Entlein nach dem anderen plumpste hinein. Das Wasser schlug über ihnen zusammen, aber sie tauchten gleich wieder auf und schwammen nun stolz dahin; selbst das hässliche graue Junge schwamm mit.
»Nein, das ist keine Pute«, sagte die alte Ente, »man braucht nur zu sehen, wie hübsch es die Beine gebraucht und wie gerade es sich hält. Nein, es ist mein eigenes Kind. Eigentlich ist es ganz hübsch, wenn man es genau betrachtet. Rapp, rapp! Kommt jetzt mit mir, dann werde ich euch in die Welt einführen und euch im Entenhofe vorstellen.«

So kamen sie auf den Entenhof. Drinnen war ein schrecklicher Lärm.
»Seht, so geht es in der Welt zu«, sagte die Entenmutter und wetzte ihren Schnabel. »Nun gebraucht eure Beine; seht zu, dass ihr euch beeilt, und neigt den Hals vor der alten Ente dort! Sie ist die vornehmste von allen hier. In ihren Adern rollt spanisches Blut. Wie ihr seht, trägt sie einen roten Lappen um das Bein; das ist etwas besonders Schönes und die höchste Auszeichnung, die einer Ente zuteilwerden kann. Es bedeutet, dass man sie nicht verlieren will und dass sie von Tieren und Menschen gleich erkannt werden soll. Rappelt euch, beeilt euch! Ein wohlerzogenes Entlein setzt die Füße auswärts, gerade wie Vater und Mutter. Seht, so! Und nun neigt eure Hälse und sagt ›rapp‹!«

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Urheber: Hans Tegner

https://en.wikisource.org/wiki/Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner)/The_Ugly_Duckling#/media/File:Page_226_of_Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner).jpg

PD

Das taten die jungen Entlein; aber die anderen Enten ringsumher betrachteten sie und sprachen: »Ei, ei, nun sollen wir diese Sippschaft auch noch hier haben, als ob wir nicht vorher schon genug gewesen wären! Pfui, wie sieht das eine Entlein aus! Das wollen wir nicht unter uns dulden!« Und sogleich flog eine Ente hin und biss es in den Nacken.

»Lasst es in Ruhe!«, sagte die Mutter. »Es tut ja niemand etwas zuleid!«
»Ja, aber es ist so groß und seltsam«, erwiderte die Ente, die es gebissen hatte, »und deshalb muss es gepufft werden.«

»Ihr habt ja recht hübsche Kinderchen, Mütterchen«, sagte die alte Ente mit dem Lappen um den Fuß. »Sie sind alle recht hübsch, mit Ausnahme des einen, das ist missglückt! Ich wollte, ihr könntet es noch einmal ausbrüten.«

»Das geht nicht, Ihro Gnaden«, sagte die Entenmutter. »Es ist allerdings nicht hübsch, aber es hat ein sehr gutes Herz und schwimmt ebenso gut wie die anderen, ja fast noch besser. Ich denke, es wird mit der Zeit schon in seine Größe hineinwachsen. Es hat nur zu lange im Ei gelegen und deshalb die rechte Gestalt nicht bekommen.«
Dabei zupfte sie es im Nacken und glättete sein flaumiges Gefieder. 

So waren sie nun zu Hause auf dem Entenhof.

Aber das arme Entlein, das zuletzt aus dem Ei gekrochen und so hässlich war, wurde gebissen, gepufft und von den Enten wie von den Hühnern gehänselt. »Es ist zu groß«, sagten sie einstimmig. Und der Puterhahn, der mit Sporen auf die Welt gekommen war und sich deshalb einbildete, er sei ein Kaiser, blies sich wie ein Schiff mit vollen Segeln auf, ging gerade auf das arme Entlein zu, und dann kollerte er und bekam einen feuerroten Kopf. Das hässliche Entlein wusste nicht, wo es stehen oder gehen sollte; es war tief betrübt, dass es so hässlich aussah und von dem ganzen Entenhof verspottet wurde.

So ging es am ersten Tag, und später wurde es immer schlimmer. Das arme Entlein wurde von allen gejagt, selbst seine Geschwister sagten immer: »Wenn dich nur die Katze holen würde! Du hässliches Ding!«
Ja, selbst die Mutter seufzte: »Wärest du nur weit fort!«

Die Enten bissen es; die Hühner hieben mit dem Schnabel auf es ein, und die Magd, die die Tiere fütterte, stieß es mit dem Fuß weg.
Da lief es fort und flog über den Zaun, wo die Vöglein erschrocken von den Büschen aufflogen.
»Ach, auch daran ist meine Hässlichkeit schuld!«, dachte das Entlein und kniff die Augen zusammen, lief aber trotzdem weiter. So gelangte es bis zu dem großen Moor, wo die Wildenten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht hindurch; denn es war sehr müde und kummervoll.

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Urheber: Hans Tegner

https://en.wikisource.org/wiki/Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner)/The_Ugly_Duckling#/media/File:Page_227_of_Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner).jpg

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Gegen Morgen flogen die Enten auf und entdeckten den neuen Kameraden. »Wer bist du denn?«, fragten sie, und das Entlein drehte sich und grüßte nach allen Seiten, so gut es konnte.
»Du bist ja schrecklich hässlich!«, sagten die Wildenten. »Aber das ist uns einerlei, wenn du nur nicht in unsere Familien hinein heiratest.«
Ach, das arme Entlein dachte wahrlich nicht ans Heiraten. Es war ganz zufrieden, wenn es nur die Erlaubnis erhielt, im Schilf zu liegen und Moorwasser zu trinken.

Schon zwei Tage hatte es nun dagelegen, als zwei Wildgänse, oder vielmehr Gänseriche, dorthin kamen. Sie waren noch nicht lange aus dem Ei gekrochen und deshalb auch etwas vorlaut.
»Höre, Kamerad, du bist so hässlich, dass du uns gerade dadurch gefällst. Willst du zu uns halten und Zugvogel sein? Hier ganz in der Nähe, in einem anderen See, wohnen einige allerliebste Wildgänschen, lauter Fräulein, die reizend ›rapp, rapp‹ sagen können. Dort kannst du vielleicht dein Glück machen, so hässlich du auch bist!«

»Piff, paff!«, knallte es plötzlich und die beiden Wildgänseriche fielen tot ins Schilf und das Wasser färbte sich ringsherum blutrot.
»Piff, paff!«, knallte es abermals, und ganze Scharen wilder Gänse flogen aus dem Schilfe auf. Wieder und wieder knallte es. Es war große Jagd; die Jäger lagen rings um das Moor herum. Der blaue Pulverdampf zog wie Wolken in die dunklen Bäume hinein und weit über das Wasser hin. Nun kamen die Jagdhunde. Welch ein Schrecken für das arme Entlein!

Es drehte den Kopf, um ihn unter die Flügel zu stecken; aber in demselben Augenblick stand ein fürchterlich großer Hund vor ihm; die Zunge hing ihm lang aus dem Hals heraus, und seine Augen funkelten entsetzlich. Er berührte das Entlein fast mit der Schnauze, wies seine scharfen Zähne und – platsch, platsch! zog er sich wieder zurück, ohne es zu packen.
»Gott sei Dank!«, seufzte das Entlein. »Ich bin so hässlich, dass mich selbst der Hund nicht beißen mag.«
So lag es denn ganz still, während die Schrotkörner durch das Schilf sausten und Schuss auf Schuss knallte.

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Urheber: Hans Tegner

https://en.wikisource.org/wiki/Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner)/The_Ugly_Duckling#/media/File:Page_229_of_Fairy_tales_and_stories_(Andersen,_Tegner).jpg

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Erst am späten Nachmittag wurde es ringsum ganz still; aber selbst dann wagte das arme Entlein noch nicht sich zu erheben. Es wartete noch mehrere Stunden, ehe es sich umschaute, und dann eilte es, so schnell es konnte, aus dem Moor fort. Es lief über Wiesen und Felder, und dabei war ein solcher Sturm, dass es kaum vorwärtskommen konnte.

Gegen Abend erreichte es ein ärmliches Bauernhäuschen, das so baufällig war, dass es selbst nicht wusste, nach welcher Seite es fallen sollte, und deshalb blieb es stehen. Aber nun brauste der Sturm draußen und es wurde immer noch schlimmer. Da bemerkte das Entlein, dass die Türe aus einer Angel herausgehoben war und nun so schief hing, dass es gerade durch die Spalten in die Stube hineinschlüpfen konnte, und das tat es.

Hier wohnte eine alte Frau mit ihrer Katze und ihrer Henne. Die Katze, die sie »Söhnchen« nannte, konnte einen krummen Buckel machen und schnurren, ja sie konnte sogar Funken sprühen, wenn man ihr im Dunkeln über die Haare strich. Das Huhn hatte kleine, niedrige Beine und wurde deshalb »Hinkebeinchen« genannt. Sie legte fleißig Eier. Die Frau liebte die Tiere wie ihre eigenen Kinder.

Am nächsten Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein. Die Katze begann zu schnurren und das Huhn zu glucksen.
»Was ist das?«, rief die Frau und schaute sich um. Da sie aber nicht gut sah, hielt sie das Entlein für eine fette Ente, die sich verirrt hatte. »Das ist ja ein seltener Fang«, sagte sie. »Nun kann ich Enteneier bekommen; wenn es nur kein Enterich ist, das müssen wir erproben.«

So wurde das Entlein für drei Wochen auf Probe genommen. Aber es kamen keine Eier. 
»Kannst du Eier legen?«, fragte die Henne.
»Nein!«
»Nun, dann halte auch deinen Mund!«

Und die Katze sagte: »Kannst du einen krummen Buckel machen? Kannst du schnurren? Kannst du Funken sprühen?«
»Nein!«
»Dann darfst du auch keine eigene Meinung haben, wenn vernünftige Leute reden!«

Das Entlein saß im Winkel und war schlechter Laune. Unwillkürlich dachte es an die freie Luft und den Sonnenschein, und da überkam es eine so eigentümliche Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, dass es zuletzt nicht mehr schweigen konnte, sondern mit der Henne darüber sprach.
»Was fällt dir ein?«, sagte diese. »Du hast nichts zu tun, deshalb kommst du auf so sonderbare Ideen. Lege Eier oder schnurre, dann gehen sie vorüber!«
»Ihr versteht mich nicht«, sagte das Entlein. »Ich denke, ich will in die weite Welt hinaus.«
»Ja, das tue nur«, entgegnete das Huhn.

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Urheber: Hans Tegner

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Darauf ging das Entlein fort. Es schwamm auf dem Wasser; es tauchte unter; aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Hässlichkeit übersehen.

Nun wurde es Herbst; die Blätter im Wald wurden gelb und braun; die Kälte nahm überhand. Schwere Wolken hingen am Himmel. Ja, es fror einen schon, wenn man nur daran dachte. Dem armen Entlein ging es wirklich nicht gut.

Eines Abends – die Sonne ging gerade wunderschön unter – kam ein Schwarm großer prächtiger Vögel, wie sie das Entlein noch nicht gesehen hatte. Sie waren blendend weiß und hatten lange, geschmeidige Hälse: Es waren Schwäne. Sie stießen einen sonderbaren Laut aus, erhoben ihre prächtigen, großen Schwingen und flogen aus der kalten Gegend fort nach den warmen Ländern. Sie stiegen so hoch, dass dem hässlichen jungen Entlein ganz merkwürdig dabei zumute wurde. Wie ein Rad drehte es sich im Wasser herum, streckte den Hals nach ihnen aus und stieß einen so eigentümlichen Schrei aus, dass es sich ordentlich vor sich selber fürchtete. Zwar wusste es nicht, wie die Vögel hießen, noch wohin sie zogen, aber es hatte sie so innig lieb gewonnen wie nie jemand zuvor. 

Es wurde ein bitterkalter Winter. Das Entlein musste unermüdlich im Teich umherschwimmen, um das Einfrieren zu verhindern. Aber jede Nacht wurde das Loch, in dem es schwamm, kleiner und kleiner. Endlich war es völlig erschöpft, lag ganz still da und fror so im Eise fest.

Am nächsten Morgen kam ein Bauer vorbei und sah das arme Tier. Er ging hin, zerschlug das Eis mit seinem Holzschuh, nahm das Entlein heraus und trug es heim zu seiner Frau. Da lebte es wieder auf.

Die Kinder wollten mit ihm spielen. Aber das Entlein glaubte, sie wollten ihm ein Leid zufügen, und fuhr in der Angst gerade in die Milchschüssel, sodass die Milch in der Stube umherspritzte. Die Frau schlug entsetzt die Hände zusammen, und nun flog das Entlein zuerst in das Butterfass, dann von hier in die Mehltonne hinein und dann wieder in die Höhe. O weh, wie sah es aus! Die Frau schrie und schlug mit der Feuerzange nach ihm; die Kinder rannten einander über den Haufen. Zum Glück stand die Türe offen, so konnte sich das Entlein zwischen die Sträucher in den frisch gefallenen Schnee hinaus retten, und da lag es nun zum Tode erschöpft.

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Urheber: Hans Tegner

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Aber es wäre wirklich zu traurig, all die Not und das Elend zu erzählen, die das Entlein in dem harten Winter erdulden musste. –
Es lag zwischen dem Schilf im Moor, als die Sonne wieder zu scheinen begann, als die Lerchen sangen und es Frühling wurde.

Da konnte es mit einem Mal seine Flügel ausbreiten. Stärker rauschten sie als je zuvor und trugen es kräftig von dannen. Und ehe das Entlein recht wusste, wie ihm geschah, befand es sich in einem großen Garten, wo die Apfelbäume in voller Blüte standen, wo die Fliedersträucher dufteten und ihre langen grünen Zweige über die sich sanft dahinschlängelnden Bäche und Kanäle ausstreckten. O wie schön war es hier!

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Urheber: Hans Tegner

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PD

Und gerade vor ihm kamen aus dem Dickicht drei große schöne Schwäne angeschwommen. Sie rauschten mit ihren Flügeln und glitten leicht und anmutig über das Wasser hin. Das Entlein erkannte die prächtigen Tiere und wurde von einer eigentümlichen Traurigkeit ergriffen.

»Ich will zu ihnen hinfliegen, zu diesen königlichen Vögeln. Sie werden mich freilich totbeißen, weil ich, das hässliche Tier, es wage, mich ihnen zu nähern; aber meinetwegen! Besser von ihnen getötet, als von den Enten gezwickt, von den Hühnern gepickt, von der Hühnermagd gestoßen zu werden und im Winter Mangel leiden zu müssen!« Damit flog es auf das Wasser und schwamm den prächtigen Tieren entgegen. Als diese das Entlein erblickten, schossen sie mit gesträubten Federn darauflos.

»Ja, tötet mich nur!«, sagte das arme Tier, senkte den Kopf auf den Wasserspiegel und erwartete den Tod – aber was sah es in dem klaren Wasser? Es sah unter sich sein eigenes Bild: Allein es war kein plumper, schwarzer, hässlicher Vogel mehr; es war selbst ein Schwan.

Es tut nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!

Die großen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit ihren Schnäbeln. Nun kamen einige kleine Kinder in den Garten. Sie warfen Brot und Korn in das Wasser, und das jüngste rief: »Da ist ein neuer!« Da jubelten die anderen Kinder, sie klatschten in die Hände, tanzten umher und holten Vater und Mutter herbei. Es wurde Brot und Kuchen in das Wasser geworfen, und sie sagten alle: »Der neue ist der schönste, so jung und majestätisch!« Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm.

Da fühlte sich der junge Schwan ganz beschämt und verbarg den Kopf unter den Flügeln. Es war ihm so sonderbar zumute, er wusste selbst nicht wie; er war allzu glücklich, aber durchaus nicht hochmütig, denn ein gutes Herz wird nie und niemals hochmütig. Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und dass nun alle sagten, er sei der schönste von allen schönen Vögeln. Da sträubte er sein Gefieder, erhob den schlanken Hals und jubelte aus vollem Herzen: »So viel Glück hätte ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das hässliche Entlein war!«

Hier findest du den Lesetext zum Ausdrucken.

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Das hässliche Entlein

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